Walker Evans (1903–1975) gehört heute zu den „Heroen“ der amerikanischen Fotografie. Der eher schwierige Einzelgänger und Bewunderer Flauberts wollte ursprünglich Schriftsteller werden. Erst gegen Ende der 1920er Jahre begann er sich nach einem Studienjahr in Paris ernsthaft mit Fotografie zu beschäftigen.
Die Große Depression nach dem Börsencrash von 1929 und Roosevelts New Deal-Hilfsprogramme für die verarmte Landbevölkerung boten ihm schließlich Gelegenheit und vor allem die Motive, seine künstlerischen Ambitionen an einer sozial brisanten Aufgabe zu erproben: Was Walker Evans der Bundesbehörde nach zwei Jahren Arbeit in den „rural slums“ der Südstaaten vorlegte, sollte sich langfristig als der bedeutendste Beitrag Amerikas zur sozialdokumentarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts erweisen.
Es war vor allem Evans‘ Bezug zur Literatur, der Svetlana Alpers (geb. 1936) – eine der renommiertesten Kunsthistorikerinnen der USA und Expertin für die Malerei des niederländischen Goldenen Zeitalters – veranlasste, sich zum ersten Mal in ihrer Karriere mit Fotografie zu beschäftigen. Ihre große Studie spürt dem Phänomen eines für sie „einzigartigen“ Werkes nach, dessen Urheber behauptete, die Fotografie sei die literarischste unter den bildenden Künsten.
Wolfgang Kemp ist Träger des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2018.